Eigentlich wollten wir euch hier über unser neues Haus in Boșcana erzählen, und euch Bilder unserer Arbeit zeigen. Das werden wir auch noch, aber aus aktuellem Anlass gibt es einen kurzen Blogpost zum Krieg in der Ukraine und wie wir das im Nachbarland Moldawien erleben.
Ein Tag an der ukrainischen Grenze
Seit beginn der Russischen Invasion in der Ukraine ist OM Moldawien, viele lokale Kirchen und unzählige Freiwillige dabei, den Menschen an der Grenze zu helfen. Damit ihr euch das etwas vorstellen könnt, erzähle ich euch wie ich den letzten Samstag erlebte (5. März).
Die Bilder sind an verschiedenen Tagen im Zusammenhang mit der Arbeit an der Moldawischen/Ukrainischen Grenze entstanden und zeigen Beispielhaft, wie unser Alltag aussieht.
Die Bilder dürfen nicht ohne schriftliche Zustimmung weiterverwendet werden.
05:30
Der Wecker klingelt, duschen, alles ins Auto packen und losfahren. Die Temperaturen sind im tiefen einstelligen Bereich.
07:00
Besammlung im Trainingscenter von OM in Chişinău. Heute sind wir ein grosses Team: 11 Helfer, zum Teil von OM oder Kirchen in der Hauptstadt.
07:30
Einkaufen: Decken, Wasser, 30kg Kartoffeln und andere Zutaten, zwei Heizstrahler fürs grosse Zelt, Baby- und Kindernahrung
08:30
Abfahrt nach Palanca, unterwegs laden wir die Zutaten in einer lokalen Kirche ab. Sie werden es kochen und später warm an die Grenze bringen.
11:00
Ankunft an der Grenze, die Warteschlange ist noch recht kurz: 5 Kilometer mit dem Auto (24 bis 48h Wartezeit) und nur rund 50 Meter für Fussgänger. Das Wetter ist wie üblich bitterkalt und windig. Wir sprechen uns mit der Nachtschicht ab und bringen den ersten Teil der Einkäufe ins Zelt.
Wir haben ein paar gespendete Traghilfen aus der Schweiz dabei, die wir an Mütter verteilen, welche ihre kleinen Kinder auf dem Arm tragen müssen.
Ein Flüchtling tritt an mich heran und fragt, wo er helfen kann. Ich bringe ihn zu unserem Team im Zelt.
12:00
Wir verteilen ein paar zusätzliche Paletten im Zelt, damit wir mehr Platz haben und nicht im Morast rumstehen. Vier Personen arbeiten ständig an der «Bar» und geben Tee und Kaffee aus. Ich bin mal hier, helfe mal da, sammle Müll ein, bringe Tee und Kaffee zu den Autos, trage Nachschub vom Van zum Zelt…
13:00
Das erste warme Essen trifft ein und wir verteilen es im Zelt. Ein anderes NGO hat einen Einkaufswagen mitgebracht und fährt damit die Autokolonne ab. Schlaue Füchse! Wir tragen unser Essen noch in Kisten rum.
14:00
Kurze Pause um selbst etwas zu Essen. Durchschnaufen, mit den anderen Helfern quatschen und ihre spannenden Geschichten hören. Nach 15 Minuten geht’s weiter.
15:00
Ich habe gerade nicht so viel zu tun, und helfe darum die Becher mit Zucker für den Tee und Instantkaffee vorzubereiten. Spiele zwischendurch ein bisschen mit Kindern oder bete für die Menschen. Die Stimmung ist ruhig, angespannt. Wenn man nicht abgelenkt ist, sieht man Väter ihre Kinder tragen, ihr Blick verloren in der Weite. Sie werden ihre Familien an der Grenze verabschieden müssen. Die Ukraine lässt keine wehrfähigen Männer ausreisen.
Die Fussgänger-Schlange ist inzwischen rund 200 Meter lang, aber es geht viel schneller vorwärts als noch in den ersten Tagen. Warum wissen wir nicht genau, es scheint der Zoll arbeitet schneller und es kommen weniger Menschen an.
17:00
Wir bereiten uns für das Nachtessen vor und schalten die Beleuchtung ein. Die Hälfte der Lichter geht nicht. Erst mal herausfinden was das Problem ist: eine Kabelrolle ist geschmolzen (Kinder, rollt die Dinger doch bitte vollständig ab). Da wir keinen Ersatz haben, passen wir die Elektroinstallation an. Jetzt ist es hell und die Mikrowellen sind bereit.
19:00
Das Essen trifft ein, wir brauchen die Mikrowellen nicht. Stattdessen verteilen wir heisse Suppen im Zelt. Danach helfe ich dem Team bei der Autokolonne und sammle Müll ein. Die Sonne ist schon lange weg. Wenn ich gerade nicht rumrenne, merke ich wie kalt es wirklich ist. Ich habe eine Jogginghose unter der Arbeitshose und oben vier (!) Lagen der besten Thermoskleider aus dem Militär an. Viele Flüchtlinge tragen ihre normalen Winterkleider, einige Kinder ihre Skianzüge.
20:00
Nach dem Essen verteilen wir permanent Tee und Kaffee an die Wartenden draussen in den Schlangen. Das UNHCR bringt Decken. Es hat noch viele Kinder in der Schlange, wir bringen ihnen Früchte und Quetschsäfte um die Stimmung zu heben. Alle sind müde, die Kleinen sind unglaublich tapfer.
22:00
Die Fussgänger-Schlange hat sich fast aufgelöst. So früh war das noch nie der Fall. Normalerweise ging es bis weit nach Mitternacht weiter. Ich setze mich mit dem Flüchtling hin, der uns den ganzen Tag geholfen hat.
Er hat zeigt mir Fotos seiner beiden Söhne. Auf dem ersten: Skiferien in den Karpaten. Auf dem nächsten: gemeinsam Sandsäcke füllen am Strand in Odessa. Ich versichere ihm, er wird sein Leben wieder zurückbekommen. Seine Antwort: «Nein, werde ich nicht.»
Mit 27 hatte er ein Architekturbüro gegründet. Jetzt, fünf Jahre später, weiss er nicht einmal mehr wo seine Mitarbeiter sind. Alle Projekte sind gestoppt, die Investitionen wohl verloren. Was noch in der Geschäftskasse war haben sie für Munition ausgegeben und an die Soldaten verteilt.
Wir sprechen noch lange über soziale Wohnungen und spannende psychologische Themen. Driften immer wieder von der Vergangenheit in die Zukunft. Und in die Gegenwart. Er ist jetzt seit 34 Stunden wach und hat Mühe die Englischen Worte zu finden, aber die Ablenkung tut ihm gut.
24:00
Kurz vor Mitternacht hat unser Team alles fertig aufgeräumt und ich verabschiede mich von ihm mit einem Gebet, einer herzlichen Umarmung und feuchten Augen. Die meisten unseres Teams machen sich jetzt auf den Heimweg.
«Mein» Van fährt gerade mit warmen Placintas die Fahrzeugkolone ab. Ich folge dem Van mit zwei Mitarbeiter unseres NGOs zu Fuss rund 2km in die Ukraine hinein. Es ist stockdunkel und surreal. Es beginnt zu schneien, aber zum Glück hat sich der Wind gelegt.
02:00
Unser ganzes Essen ist verteilt und unsere Schicht zu Ende.
04:30
Wir treffen im Trainingscenter in Chişinău ein. In meinem eiskalten Auto denke ich an die Leute, welche gerade jetzt bei diesen Temperaturen in ihrem Auto übernachten und frage mich, wieviel Benzin es wohl braucht, wenn man den Motor und die Heizung eine Nacht lang laufen lässt. Ich mache laute Rockmusik an, esse vier Powerriegel und fahre los.
05:30
Hallo, mein geliebtes Bett.
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dass wir hier in Moldawien helfen können.
Wie geht’s uns?
Eigentlich gut. Moldawien ist aktuell nicht direkt vom Krieg betroffen und wir verteilen weiterhin Essen hier in Boșcana. (Darum bin ich auch nicht öfter an die Grenze gefahren) Das Flüchtlingsthema ist immer präsent, doch der Alltag geht parallel weiter.
Die Kinder wissen grundsätzlich, dass Krieg ist und wir Flüchtlingen helfen.
Das kennen sie schon von unserem Einsatz in Lesvos.
Was sie nicht wissen, ist wie nahe das Ganze ist. Von unserem Wohnort sind es 10 Minuten bis nach Transnistrien. Es ist gut möglich, dass diese teilautonome Region Moldawiens sich zu Russland bekennen wird, sollte die ganze Ukraine annektiert werden. Aus diesem Grund haben wir zum Beispiel unser Auto «zum Campen» gepackt: mit Schlafsäcken und Essensvorräten. Jetzt freuen sie sich auf unseren ersten Ausflug und möchten als Erstes unbedingt nach Odessa ans Meer.
Diese Spannung zwischen der harten Realität, den Eindrücken und Geschichten, die wir hören – und der einigermassen heilen Welt zuhause ist für uns Eltern eine echte Herausforderung. Es gibt Tage, da sind wir traurig oder werden wütend. Wir merken auch, dass wir eigentlich voll im Kulturschock stecken (dazu aber mehr in einem späteren Blogpost). An den meisten Tagen gehts aber ganz gut, und wir lernen mit der Situation umzugehen.
Wie geht’s weiter?
Wir machen weiter und freuen uns hier sein zu dürfen. Sowohl die Flüchtlinge als auch die Moldawier brauchen Hilfe. Am Weltfrauentag haben wir Blumen an die Seniorinnen im Dorf verteilt. Heute hat uns jemand erzählt, es sei 5 Grad in seiner Hütte weil das Gas nicht mehr funktioniert (oder er kein Geld hat, habe ich nicht ganz verstanden). Stell dir vor, du müsstest in deinem Kühlschrank leben.
Das ist auch der Grund, warum wir im Februar eine Sammelaktion für Winterkleider durchgeführt haben. Wir hatten ursprünglich mit zehn bis fünfzehn Säcken gerechnet, aber es wurden etwa drei bis vier Transporter voll und wir mussten darum die Sammelaktion vorzeitig abbrechen. Einen Teil haben wir bereits an die HMK in Thun weitergegeben, welche die Kleider vor ein paar Tagen in die Ukraine gefahren hat. Der Rest wird in den kommenden Wochen per Lastwagen zu uns nach Moldawien gebracht.
Vielen herzlichen Dank an Alle, die sich für die Menschen der Ukraine einsetzen. Und Allen die für unsere Aktion gesammelt, gewaschen, aussortiert und transportiert haben.
― Tim
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